GEISTLICHER CHOR

„Sie müssen mir jetzt helfen, meine Brille zu finden.“

Aus meinem Tagebuch 1995

Lassen Sie mich nachrechnen: 12 Jahre – das sind 24 Semester, das heißt 48 Eröffnungs- und Schlussgottesdienste – dazu unzählige weitere Eucharistiefeiern, Vespern, Wortgottesdienste, Karmittwoche, adventliche Rorateämter, ökumenische Gottesdienste, 8 Fahrten nach Paris zur Deutschen Gemeinde, der Weltjugendtag…, alles mitgestaltet vom Geistlichen Chor der KHG. Schon diese Vielzahl an Einsätzen legt nahe, dass es eine funktionierende Zusammenarbeit zwischen dem Hochschulpfarrer und dem Chor bzw. seinem Leiter gegeben haben muss. Doch wie begann diese zwölfjährige, äußerst fruchtbare Zusammenarbeit – und eine tiefe Freundschaft? Genau so, wie viele Liebesbeziehungen beginnen: mit einem handfesten Krach. Die Geschichte eines Erstkontakts, zwischen Krimi und Komödie – und der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

DER BLANKE HASS

Januar 1995. Es ist bitterkalt. Zusammen mit meinem ehemaligen Germanistik-Professor besuche ich am 1. Januar den Sonntagsgottesdienst in der Kirche der Hochschulgemeinde. Pater Lauter feiert das Hochamt. An Epiphanie – 6. Januar – treffen wir uns wieder zur Abendmesse; mein Professor, ein Bildermensch, rammt mir in seiner gewohnt direkten Art seinen Ellenbogen in die Seite: „Wolters, die Pietà ist weg. Wo ist die Pietà? Und die Georgsikone, die vor der Orgel stand?“ Wir gehen in die Krypta und sehen: Auch das schöne, an schweren Eisenketten über dem Altar in der Krypta hängende Torsokreuz ist verschwunden. Ich deute ein leichtes Achsel-Zucken an, als der Professor mich fragend mustert: Gesten zum Ausdruck der Unwissenheit ihm gegenüber beherrsche ich in allen Varianten. Am 1. Januar war doch noch alles da. Niemand weiß etwas. Vielleicht werden diese Objekte zur Zeit restauriert? Ist das die erste Maßnahme des neuen Hochschulpfarrers, den zu diesem Zeitpunkt hier noch niemand kennt? Der Professor nickt anerkennend: „Das wäre gar nicht schlecht! Die Georgsikone war doch durch den Kerzenruß sehr dunkel geworden im Laufe der Jahre.“

Mittwoch, 18. Januar. Es ist bitterkalt. Ich marschiere zur Steinfelder Gasse, der Dependance der Hochschulgemeinde. Soll um 17.30h da sein. Vorstellungsgespräch beim neuen Hochschulpfarrer, der dort seit seiner Ernennung im November 1994 noch seinen Amtssitz hat, bis die Räume in der Berrenrather Straße renoviert sind.

Auf dem Weg in Richtung St. Gereon lasse ich die zurückliegenden Monate Revue passieren. Im Juli ’94 ist Hochschulpfarrer Wilhelm Nyssen gestorben. Die Hoch­schul­gemeinde in der Berrenrather Straße: im Stadium der Auflösung, das einstige Publikum bleibt aus, in alle Winde zerstreut. Gerüchte von Nachfolgestreitigkeiten machen die Runde. Wöchentlich neue Spekulationen. Doch zu Herbstbeginn füllen sich die Wohnheime der KHG, die Zimmer sind belebt von neuen Studentinnen und Studenten, gerade eingezogen, die den früheren Hochschulpfarrer – wenn überhaupt – nur noch von Erzählungen kennen. Anfang September ’94 habe ich den Chor zusammengetrommelt, alle kommen, auch neue Leute sitzen da.

Zuvor habe ich Pater Lauter aufgesucht. Ein Chorleiter eines geistlichen Chores braucht nun mal einen geistlichen Ansprechpartner. Pater Lauter wohnte seit langem im Bereich der Pfarrhäuser in der KHG und hat während der Vakanz die Gemeindegottesdienste übernommen. Dieses Gespräch mit Pater Lauter war eines der kürzesten, aber auch – wenn ich heute darüber nachdenke – eines der wichtigsten Gespräche, zudem weitgehend ein Gespräch auf nonverbaler Ebene, Minimal-Dialog: „Herr Pater?“ Pater Lauter sieht mich an, versteht und nickt: „Sie machen weiter. Wenn es irgendwelche Fragen gibt, kommen Sie zu mir. Eröffnungsgottesdienst ist am Mittwoch, 19. Oktober.“

Aufgrund dieser Antwort setze ich übrigens Pater Lauter mit auf die Liste der Kölner Studentenpfarrer. Wie schon bei Wilhelm Nyssen und später bei Raimund Blanke gibt es keinerlei Diskussion darüber, dass wir singen, auch keinerlei Diskussionen darüber, was wir singen, sondern es gibt einen Termin, an dem wir singen sollen.

Dieses Statement von Pater Lauter hat zudem bewirkt, dass wir, der Geistliche Chor keinerlei interne Diskussionen darüber führten, ob wir jetzt, nach dem Tode von Wilhelm Nyssen, weitermachen sollen und wie und überhaupt. Denn: Wir haben ja einen Termin. „Der Termin ist mein Genie“, sagte einst Fontane. Also haben wir diesen Eröffnungsgottesdienst vorbereitet, im Dezember einen Rorate-Gottesdienst angesetzt - und ein adventliches Konzert mit Lichtbildervortrag meines Professors. Und befinden uns jetzt, Januar 1995, mitten in den Proben zum Schlussgottesdienst: Mozart, Missa brevis D-Dur.

Steinfelder Gasse, kurz nach 17:30 Uhr. Ich drücke die Klingel neben der Glastür, es wird mir aufgetan. Eamon Fernandes grinst mich über beide Ohren an, weist nach oben: „Die warten schon auf dich!“ Dann sitze ich in einem der Büros, vor mir der neue Hochschulpfarrer und sein Assistent. Kühle Begrüßung, kein Shake-Hands. Ich mustere den neuen Mann: eher von kleiner Gestalt, volles, ergrautes Haar, Bart, schlank, fast hager (ein Jesuit?), dezent und modisch gekleidet, teures Aftershave (nein, kein Jesuit!), das Gesicht leicht gerötet. Die Augen wach – doch die Augen stehen im Gegensatz zu dem offensichtlich um Strenge und Ernst bemühten Gesichtsausdruck. Der Assistent sagt nix, seine Augen zu zwei Schlitzen verengt, das verleiht ihm dem unerbittlichen Parallelblick eines Raubtiers, das zum Sprung auf die Beute ansetzt.

Was hatte ich erwartet? Alles, nur nicht diesen Verlauf des Gesprächs. Als ich beim Bericht über die Chorarbeit bei den aktuellen Proben für den Semsterschluss-Mozart angekommen bin, unterbricht mich der neue Hochschulpfarrer und fragt mich nach neuem geistlichen Liedgut. Wie sieht es denn mit dem NGL aus im Chor?

Ja, davon kann man getrost viele in die Tonne kloppen, erwidere ich, aber wir haben im Repertoire doch einige ganz fetzige … „Nein!“, flüstert der Assistent gefährlich leise, „Sie, Herr Wolters, Sie sind vollkommen gegen das NGL!“ Ich bin bass erstaunt: Endlich jemand, der mich versteht? Trotzdem kann ich derartige mir in den Mund gelegte Allgemeinplätze, auch wenn sie wie in diesem Fall stimmen, nicht zulassen und frage, wie er denn darauf komme.

Wie von der Tarantel gestochen springt er auf: „Das kann ich Ihnen beweisen, schwarz auf weiß.“ Er zieht verdächtig schnell den richtigen Leitzordner aus einem mit Abermillionen Leitzordnern gespickten Regal, blättert verdächtig kurz darin, lässt virtuos den Ringverschluss auf- und wieder zuschnappen und legt mir mit triumphierendem Blick ein Chorwerbeblatt vor, das unser damaliger Tenor Christoph Z. verfasst hatte und in dem wir, wie es bei uns Ouzo ist, uns und unser Tun gehörig auf die Schippe nehmen und nebenbei anmerken, dass wir nur ganz schrecklich alte Sachen singen und es nicht so dicke haben mit „In das Wasser fällt ein Schwein“ oder „Herr, Deine Liebe liegt im Gras am Ufer“ und weiteren nachkonziliaren 68er-Hits dieses Kalibers.

Auweia, denke ich, ganz schön stasimäßig: Sammeln die hier doch tatsächlich meine Flugblätter – und muss bewundernd anerkennen: Das Archiv hier ist weitaus besser auf zack als mein eigenes! Aber: Woraus wollen die mir jetzt einen Strick drehen? Ignoranz des NGL? Ich frage den Assistenten, ob ihm hier der selbstironische Kontext dieses Flugblatts nicht aufgefallen sei…

„Sie sind also gegen das NGL?“, meldet sich der Hochschulpfarrer wieder in das Gespräch zurück, als ich mich resigniert zurücklehne, weil ich feststellen muss, dass der Assistent ungefähr so ironiefähig ist wie ein Aldi-Aufbackbrötchen.

Nun, sage ich, zum Beispiel in der Barockzeit und danach wurden viele, viele Lieder geschrieben, von denen nur ein Teil bis in die heutigen Gesangbücher überlebt hat, und so wird es auch sein mit den vielen vielen NGLs, die auch nur zum Teil überleben werden… Ist halt viel Schrott dabei, ergänze ich mit um Solidarität heischender Expertenmiene, was aber gar nicht gut ankommt. „Aha!“ sagt der Assistent spitz, mit diesem „Jetzt-haben-wir-Dich-aber-so- was-von-am-Wickel“-Tonfall, den man aus diesen älteren Ostblock- Agentenfilmen kennt, wo sie einem in schwach beleuchteten Büros mit Türen ohne Klinke die Tischlampe ins Gesicht drehen. Ich zucke mit den Achseln. Der neue Hochschulpfarrer blättert in einigen Papieren, dabei beugt er sich leicht vor, blickt durch die Brille, bewegt den Kopf leicht hin und her, den Mund halb geöffnet, und zieht die Nase kraus. Eine Situation wie in einer mündlichen Prüfung, wo man gleich die Beantwortung der ersten Frage völlig versemmelt hat und auch dem Prüfer es nun schwerfällt, einen neuen Ansatz zu finden.

Schließlich blickt der neue Mann von seinen Papieren auf: „Sie haben einen Kirchenschlüssel, das stimmt doch?“ Natürlich habe ich einen Kirchenschlüssel. Für Kirche, Archivkeller und Orgel.

18:00 Uhr: Das Gespräch ist bald zu Ende. Der Semesterschlussgottesdienst soll noch wie geplant vom Chor gestaltet werden, dann wird man sehen. Ich stehe auf, verabschiede mich.

Das war’s dann wohl, denke ich, nicht nur mit diesem Stasi-Verhör, auch mit dem Chor – aber mehr noch beschäftigt mich in diesem Augenblick die Frage, warum diese beiden Typen bloß so betont sch…, ähem: unfreundlich drauf sind.

Ich wende mich zum Gehen, als der Studentenpfarrer mich noch einmal anspricht: „Sie fahren jetzt zur Hochschulgemeinde?“ Ja, sage ich, gleich ist Gottesdienst, ich spiele die Orgel - und danach ist Chorprobe, will ich noch ergänzen, lasse das aber weg. „Sie können mit mir fahren“, sagt der neue Hochschulpfarrer, „ich halte heute Abend den Gottesdienst in der Hochschulgemeinde. Das ist … mein erster Gottesdienst in dieser Kirche.“

Schweigend gehen wir durch den kalten Abend, der eisige Winterwind, der Schnee verheißen hatte, ist mittlerweile kalten Regenböen gewichen, die uns ins Gesicht peitschen. Es ist dunkel, die Silhouette von St. Gereon ist gegen den düsteren Abendhimmel kaum zu erkennen. Der Pfarrer schließt seinen Wagen auf, wirft seine Aktentasche auf die Rückbank. Ich nehme auf dem Beifahrersitz Platz.

„Oh, ich habe meine Brille vergessen.“ Er tastet seine Mantel- und Jacketttaschen ab, ein Bewegungsritual, das in seiner Vergeblichkeit die nächsten 12 Jahre zum Standard gehören wird. „Nein, es ist zu spät, ich kann nicht mehr zurücklaufen“, sagt der Hochschulpfarrer. Er startet den Wagen und fährt los. Das Abblendlicht schaltet er erst nach einigen hundert Metern ein.

Ich brüte vor mich hin. NGL! Pah! Für seinen Vorgänger, Wilhelm Nyssen, hatten Vivaldi, Bach und Mozart bereits als ketzerische Avantgarde gegolten: „Violinen in der Kirche, Nikolaus? Das sind im strengen Sinne keine liturgiefähigen Musikinstrumente!“ Ich habe zwar alles machen dürfen, was ich machen wollte, aber: Mit Gregorianik und früher Mehrstimmigkeit hatte die Kirchenmusik, davon war Wilhelm Nyssen überzeugt, ihren Höhepunkt und vorläufigen Abschluss erreicht – und der neue Mann neben mir hier in diesem japanischen Kleinwagen wirft mir vor, dass ich kein NGL mache. 800 Jahre, meine verehrten Hochschulpfarrer! Dazwischen liegen 800 Jahre, und glaubt mir, der Nikolaus ist nicht der Einzige, der die Ansicht vertritt, dass es zwischen 1200 und „Wenn das rote Meer grüne Welle hat“ doch einige ganz nette Dinge gibt, die man durchaus auch mal in einer KHG zu Gehör bringen kann.

Ein Gespräch will daher nicht recht zustande kommen, während wir durch die kleinen Gassen des Gerling-Viertels in Richtung Ringe fahren.

BLANKES ENTSETZEN

Diesem Satz des Hochschulpfarrers „Ich habe meine Brille vergessen!“ hätte ich zu dem Zeitpunkt der Abfahrt einfach mehr Gewicht beimessen sollen. Spätestens als wir im Gerling-Viertel eine Einbahnstraße in Gegenrichtung befahren, der Wagen des Hochschulpfarrers sich dann in einer engen Straße links einordnet, wo mehrere blaue Schilder mit Pfeilen überdeutlich darauf hinweisen, dass man hier nur die Alternative zwischen rechts ab und geradeaus hat (wir rumpeln bei dieser Gelegenheit lautstark mit Tempo 40 über den dicken Bordstein einer Verkehrsberuhigung und setzen mit apokalyptischem Blechgeschrei auch gehörig auf) - und er schließlich die rote Ampel ignoriert, die die Einfahrt zu den recht befahrenen Ringen verwehrt, spätestens da werde ich doch ein wenig skeptisch.

Nein, muss zugeben, skeptisch ist das falsche Wort: In Wirklichkeit sitze ich da, die rechte Hand den Griff über der Beifahrertür umklammert, den sonst nur Ü70-Leute benützen, die linke im Leder des Sitzes verkrallt, aus meinem Unterbewusstsein tönt leise das Lied (definitiv kein NGL!): „Näher, mein Gott, zu Dir“.

„Herr Pfarrer, da vorne … ähem … der Radfahrer…“ Keine Chance! Im Beifahrerspiegel sehe ich für einen Sekundenbruchteil einen gestreckten Mittelfinger und das empörte Gesicht des laut schimpfenden Radlers.

„Zu dumm, dass ich die Brille vergessen habe. Hoffentlich kann ich gleich die  Messtexte lesen“, sagt der neue Hochschulpfarrer in echter Sorge zu mir gewandt, während er auf den Ringen die Abbiegespuren zur Aachener geradeaus fährt, ich sogar noch das Copyright auf der immer näher auf mich zukommenden Werbetafel lesen kann und Fußgänger am Rudolfsplatz sich nur durch beherzte Sprünge in Pfützen in Sicherheit bringen. Die Messtexte … als ob es dazu heute noch kommt!

NADA TE TURBO

In diesem Moment überwältigt mich die Erkenntnis, dass ich hier gar nicht um meine Existenz bangen muss, sondern dass ich hier ganz unmittelbar erlebe, wie weit der Begriff „konsequente hochschulseelsorgerische Tradition in Köln“ doch dimensioniert ist: Sein Vorgänger, Wilhelm Nyssen, fuhr genau so eigenwillig und chaotisch Auto wie der neue Mann neben mir.

„Siehst Du hinter uns diesen Mann mit Hut in diesem lächerlichen Mercedes?“, fragte Wilhelm Nyssen mich einst, als wir die Eifelautobahn entlangfuhren. „Der hat mich doch gerade tatsächlich angeblinkt. Dem werde ich jetzt mal zeigen, was ein Turbolader ist“, und tritt das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Der Wagen macht einen Satz, die Auspuffanlage gurgelt tieffrequent, die Tachonadel schnellt in Nullkommanix in die höheren dreistelligen Bereiche, ich werde in den Beifahrersitz gepresst. „Hast du gesehen, Nikolaus, wie dämlich dieser Blödmann jetzt geguckt hat? Ha, Mercedes gegen meinen Saab mit Turbolader: dass ich nicht lache! Und dann noch Hut auf im Auto. Ich sach’ Dir, das sind die Schlimmsten …!“

Irgendwie erreichen wir – der Nachfolger Wilhelm Nyssens und ich – an diesem Mittwochabend und an Leib und Seele unversehrt die Ecke Universitätsstraße / Berrenrather Straße. Er biegt ein, ich zeige ihm, vielmehr: beschreibe ihm in Fahrlehrer-Diktion („Hier wollten wir eigentlich links abbiegen…“), wo die Einfahrt zum Parkplatz der KHG ist. Doch der neue Hochschulpfarrer hat offenbar erkannt, dass er jetzt das Schicksal nicht weiter herausfordern darf, und verzichtet auf die Fahrt durchs beschrankte Nadelöhr des KHG-Parkplatzes (das Nyssen schon verfluchte, weil es ihn ein Heidengeld an Lackarbeiten und etliche Außenspiegel gekostet hat) und parkt am Straßenrand vor dem KHG-Eingang, dort, wo die Feuerwehrzufahrt Halteverbot gebietet. Ich sage nichts. Er nimmt die schmale Aktentasche vom Rücksitz, steigt aus, schließt ab, blickt sich um, aber kein Mensch ist zu sehen an diesem kalten, nassen Abend.

Mir ist überhaupt nicht mehr kalt, im Gegenteil: ich spüre weder Kälte noch Hitze. Wir gehen vor zur Kirche, deren Fenster beleuchtet sind, ein schwacher Lichtschein erhellt den Eingangsbereich unter dem Vordach. Missbilligend schaut der neue Pfarrer auf einige Fahrradkadaver, die hier abgestellt sind: auch das ein Topos in den kommenden 12 Jahren. Und wirft einen kurzen, scheuen Blick in Richtung der Freitreppe zum Zentrum.

Ich öffne die Türe, er betritt die Kirche. Dann stehen wir im Innenraum. Was auch immer zuvor war, wer auch immer die Kirche der KHG betritt: die Atmosphäre dieses Raumes ergreift jeden, und sie absorbiert zumindest temporär alle Unbill des vorangehenden Tages. Die Kerzen brennen, Fräulein Noack hat die Bücher ausgelegt und Hostienschale und Kelch bereitgestellt. Fräulein Noack ist nirgends zu sehen, also muss sie unten in der Sakristei sein. Die Kirche ist leer, kein Mensch da.

Der Hochschulpfarrer kniet wieder, macht das Kreuzzeichen, und betrachtet den Raum. Mit einer Handbewegung lenke ich ihn zur Treppe, die in die Sakristei führt. Unten begrüßen wir Fräulein Noack, die den neuen Mann schon kennt. Ich erhalte den Liederzettel (kleine, aber nach graphologischen Maßstäben von hoher Intelligenz zeugende Schrift) und schiebe die Holzbrettchen mit den Nummern in die Liedtafel. Dann gehe ich nach oben, hänge die Tafel auf und werfe die Orgel an. Mittlerweile haben sich ein paar Leute eingefunden. Liebster Jesu, wir sind vier – nein, einer mehr.

Der Gottesdienst verläuft in großer Andacht, muss man sagen. Der neue Mann kann recht gut singen, stelle ich fest, ein richtiger Tenor – und vor allem trägt seine Sprechstimme – und passt auch gut in diesen Raum, dessen Akustik ja legendär ist. Und das kleine Publikum ist sich anschließend ganz sicher, dass dieser Priester den Texten und ihrem genauen Wortlaut allergrößte Bedeutung zumisst, weil er beim Lesen mit großer Ehrfurcht sich zu den Büchern halb herabbeugt, dabei in einem offenbar kanonisch genau festgelegten Abstand zum Text verharrt und auch beim Vorlesen äußerst genau artikuliert.

Nach dem Gottesdienst fährt der neue Pfarrer rasch wieder davon. Das Abblendlicht schaltet er erst an der Kreuzung zur Universitätsstraße ein. Um 20.00h treffen die ersten Chorleute ein. Ich berichte ihnen in Kurzfassung von diesem Vorstellungsgespräch und davon, dass sie demnächst sich schwerpunktmäßig aufs NGL wahlweise auf einen neuen Leiter einstellen müssen – doch dann proben wir an dem D-Dur-Mozart weiter, schließlich haben wir ja einen Termin.

SUCHEN UND FRAGEN I

Einige Tage später bin ich spätabends in der KHG, Solistenprobe – und um Kopien für die Musiker zu machen. Es ist dunkel, und es regnet. Als ich das Zentrum der KHG verlasse, treffe ich zu meinem großen Erstaunen wieder auf den neuen Hochschulpfarrer, der die Freitreppe heraufkommt und sich dabei den Mantel abklopft. Sein Gesicht ist leicht verschmutzt.

„Herr Pfarrer?“, sage ich erstaunt.

„Sind Sie das, Herr Wolters …?“ Mittlerweile hat er das obere Plateau vor der Zentrumstreppe erreicht. „Sie müssen mir jetzt mal eben helfen … ich bin da unten gestürzt … Ich war nur kurz im Pfarrhaus, wegen der Umbauarbeiten, die bald beginnen … Da unten“, er weist in Richtung Innenhof, „ist es furchtbar glatt, besonders auf dieser Seitentreppe zum Pfarrhaus …“

Ich suche ein Paket Tempo-Tücher heraus: „Sie gestatten?“, und tupfe ihm den Schmutz von der Wange, so wie ich es bei meiner zweijährigen Tochter Anna mache, wenn sie strahlend mit Rotznäschen vor mir steht. Meine Oma hat bei solchen Gelegenheiten das Taschentuch mit Spucke befeuchtet, was ich aber unterlasse. Der Hochschulpfarrer hält still, mit zusammengepressten Lippen – diesen Reflex verlernt man nie, als hätte ich doch Spucke drauf getan.

„Ich habe dort unten, als ich gestürzt bin, irgendwo meine Brille verloren, ist mir aus der Tasche gefallen …“, sagt der Hochschulpfarrer und tastet zum Beweis seine Taschen und Innentaschen mehrfach ab. Ohne Erfolg.

Er blickt zum Pfarrhaus, dann sieht er mich an, schweigt eine Weile und sagt: „Ja, ich weiß, kann mir denken: Sie sind bestimmt nicht allzu gut auf mich zu sprechen, und die Situation ist … ist nicht gut …, aber trotzdem“, er richtet sich etwas auf: „Sie müssen mir jetzt helfen, meine Brille wiederzufinden.“

Ich nicke bestätigend. Ja, die Situation. Soll er doch seine … Brille selbst suchen! Wir gehen die Treppe hinab zum Innenhof und von dort die Steintreppe zum unteren Eingang des Pfarrhauses, wo auch der Kryptaausgang sich befindet. Der neue Pfarrer hat recht: Durch den Moosbewuchs und das Regenwasser sind die schiefen Platten und Stufen spiegelglatt.

„Sie warten hier besser, ich schaue mal …“, sage ich und sehe im gleichen Moment im Gebüsch etwas blinken. Doch so einfach soll es jetzt nicht abgehen. Ich taste mich durch die Botanik, bewege Strauchäste hin und her und murmele etwas in der Art „Hmm, das wird aber gar nicht leicht sein, hier was zu finden … Taschenlampe wäre nicht schlecht …“ Ein bisschen Dramatik ist jetzt durchaus angebracht. Ich setze eine betont angestrengte Miene auf, was im Dunkel der Szenerie aber nur wenig Eindruck macht, richte mich ab und an auf und erkundige mich nach dem exakten Ort seines Sturzes. „Dort, nicht weit, wo Sie jetzt stehen“, ruft der Pfarrer von unten und deutet in verschiedene Richtungen meiner Umgebung. „Die Brille kann natürlich dabei um einiges weiter gefallen sein“, sage ich mit zunehmend schlechtem Gewissen.

„Wir müssen die Brille unbedingt finden. Ich bin sehr in Eile ... Aber ohne die Brille kann ich kaum Auto fahren“, sagt der neue Hochschulpfarrer.

„Ich weiß …“, murmele ich halblaut, „ich weiß …“

„Bitte?“

„Äh, ich weiß nicht, ob ich hier richtig bin, die Brille kann bei dem Sturz werweißwohin….“ Ich beschließe, dass es nun genug ist, und ziehe die vollkommen unversehrte Brille aus dem Gebüsch, wo ich sie sofort lokalisiert hatte: „Heureka! Hier haben wir ja das gute Stück.“

Von unten kommt ein großer Seufzer der Erleichterung. Doch einen hab ich noch: „Hmm, ich glaube aber, Ihre Brille hat’s bei dem Sturz …“ – kleine dramatische Retardierung kurz vor dem Showdown! Von unten ertönt ein bestürztes „Oh, nein?!“  – „Hmm … nein, alles ok, sie ist heil geblieben.“ Ich steige hinab und halte die Gläser prüfend in Richtung der hell erleuchteten Wohnheimfenster: „Kein Sprung, alles klar“, und übergebe dem neuen Hochschulpfarrer seine Brille.

„Gottseidank!“ seufzt er erleichtert. „Ich danke Ihnen! Das wäre jetzt eine Katastrophe, wenn ich ohne Brille … ich habe nämlich noch einen ganz wichtigen Termin in Bonn…“ Dann stutzt er, betrachtet mich. „Sie hatten heute Chorprobe?“

„Nein, Solistenprobe – und ich habe noch Noten für die Musiker kopiert. Die Originale will ich nicht verschicken“, erwidere ich.

„Sie werden eine Mozartmesse singen, sagten Sie. Sogar mit Orchester. Ich bin gespannt. Den Liedplan für den Schlussgottesdienst habe ich übrigens fertig. Warten Sie.“ Er entnimmt seiner schmalen Aktentasche ein Blatt. „Können Sie das noch eben kopieren? Ich habe davon keine Abschrift. Sie können die Kopie an der Pforte hinterlegen.“

Ich nehme das Blatt an mich. Wir gehen hinauf, an der Kirche vorbei zum Parkplatz, zu seinem Auto. Er öffnet den Wagen und wirft die Tasche auf die Rückbank. Dann wendet er sich wieder mir zu. „Und – herzlichen Dank, dass Sie mir, äh, trotzdem geholfen haben, ohne die Brille wäre ich jetzt vollkommen hilflos gewesen…“

Er reicht mir die Hand zum Abschied. Und fährt los.

Ich schaue ihm nach. Erst an der Kreuzung zur Universitätsstraße schaltet Pfarrer Blanke das Abblendlicht ein.

Ich bleibe zurück auf dem Parkplatz. Mein Blick fällt auf den Liedplan in meiner Hand: „Semesterschlussgottesdienst WS 94/95. Zu Beginn: Suchen und Fragen.“

Mittwoch 1. Februar, ca. 20:15 Uhr. Nach dem Semesterschlussgottesdienst strömt alles aus der Kirche. Josef Bungartz spielt „Grand Chœur“ von Theodor Dubois als Nachspiel auf unserer kleinen Orgel. Der D-Dur-Mozart im rappelvollen Schlussgottesdienst war grandios gut, der Chor hat in dieser „Hier-ist-bald-Schluss-mit-lustig“-Stimmung, die ich durch meine unverblümten Kommentare darüber, was ich von der neuen Gemeindeleitung halte, reichlich angeheizt hatte, nochmal alles gegeben: Wenn schon Abgang, dann ein Finale, das sich hören lassen kann. Ich gehe nach draußen vor die Kirche, ernte begeisterte Statements der Kirchenbesucher und stelle mich etwas abseits, um die obligatorische postliturgische Zigarette zu rauchen.

KLEINES SENFKORN

Da steht plötzlich ein Pepita-Hut neben mir. Unter dem Pepita-Hut ein stechender, strenger Blick. „Ich hätte nicht gedacht …“, sagt der Pepita-Hut, „ich muss zugeben: Ich hätte einfach nicht gedacht, dass man in einer Studentengemeinde  in einem Studentengottesdienst eine Mozartmesse machen kann.“ Ich drücke die Zigarette aus und schnippse die Kippe ins Gebüsch. „Hochschulgemeinde“, sage ich zu dem Pepita-Hut, „das hier ist eine Hochschulgemeinde. Gucken Sie mal in Ihren Akten nach …!“

Ich lasse den Pepita-Hut und alles, was sich darunter befindet, stehen und gehe wieder in die Kirche. Josef Bungartz beendet gerade das Nachspiel, erhält großen Applaus. Die Chorleute unterhalten sich, ich sammele die Chorstimmen und Mappen ein, einige helfen dabei, das Material in die bunten Kunststoffkartons einzusortieren.

Hochschulpfarrer Raimund Blanke kommt beschwingt die Treppe herauf und geht zum Chor: „Großartig! Sie haben ganz großartig gesungen. Fantastisch, der Mozart, aber auch ‚Ihr Mächtigen’! So schnell habe ich das noch nie gehört. Herzlichen Dank!“

Später, im Getümmel draußen vor der Kirche, kommt Pfarrer Raimund Blanke noch einmal auf mich zu. „Ganz im Vertrauen, Herr Wolters, Sie müssen wissen, dass ich Mozart liebe, und eigentlich auch diese Art von Musik im Gottesdienst über alles schätze. Aber Sie verstehen: Wir müssen auch moderne Lieder singen, um dadurch die Leute zu erreichen. Aber ich wünsche mir, dass der Chor diesen Mozart auch noch mal zur Semestereröffnung im Sommersemester bringt.“

Etliche Monate später. Raimund Blanke und ich sitzen uns gegenüber, vor uns stehen zwei großzügig gefüllte Cognak-Gläser, Raimund Blanke entzündet eine Kerze auf dem Tisch. Eben ist der Empfang zu Ende gegangen, der nach dem Eröffnungsgottesdienst zum Wintersemester etliche hundert Leute von der Kirche in die Aula gelockt hat. Es ist fast 23.00 Uhr, Pfarrer Blanke hat es sich in seinem Sessel bequem gemacht. „Das war ein fantastischer Abend. Und eine wunderbare Liturgiefeier. Und so viele Menschen, das ist doch ein großer Erfolg, oder?“

Ich nicke. Nach diesen großen Gottesdiensten in der KHG steht man anschließend noch immer stundenlang unter Adrenalin, das gilt für den Hochschulpfarrer, aber auch für mich – und der Blanke’sche Cognak vom Feinsten („Den hab’ ich eigens für das Gespräch mit dem Generalvikar gekauft!“) hilft doch ein wenig, die Anspannung abzubauen. Das Treffen im Pfarrhaus nach den großen Gottesdiensten wird ein festes und angenehmes Ritual in diesen 12 Jahren Amtszeit des Hochschulpfarrers Raimund Blanke, und dazu gehört auch, dass wir beide dann immer auf Organist Thomas H. warten müssen, der auch ins Pfarrhaus kommen soll, aber in der Aula meist von etwas Blondem noch ein bisschen aufgehalten wird.

Raimund Blanke und ich lassen derweil den Tag Revue passieren, stoßen an und amüsieren uns über diese oder jene Anekdote des Abends. Seit Januar 95 hat sich viel getan in der Hochschulgemeinde. Und auch im Chor. Der damaligen Empfehlung, unbedingt mehr moderne Sachen zu machen, bin ich gefolgt, indem ich im Sommersemester das Chorarchiv nach dem ältesten Ordinarium durchforstet habe, das ich finden konnte: mit dem Ergebnis, dass wir die „Missa brevis“ von Andrea Gabrieli (1510-1586) einstudiert haben. Die aber auch Raimund Blanke sehr gefallen hat, in Kombination mit einigen liturgischen Hits aus den späten 70er- und 80er-Jahren. Wir sind uns musikalisch durchaus näher gekommen, ohne das Terrain aufzugeben.

SUCHEN UND FRAGEN II

Bevor Thomas zu uns stößt, nutze ich die Gelegenheit: „Herr Pfarrer Blanke, ganz ehrlich: Ich muss eine Sache wissen. Sie müssen mir jetzt erzählen, was damals da in der Steinfelder Gasse los war.“

„In der Steinfelder Gasse?“

„Ja, damals, bei unserem ersten Gespräch in der Steinfelder Gasse, als ich mich bei Ihnen vorstellte.“

Raimund Blanke nimmt die Brille ab, hält die Brille gegen das Licht der Stehlampe dänischer Provenienz, prüft und putzt dann die Gläser.

„Grauenhaft. Absolut unangenehm! Wissen Sie, das war eine ganz blöde Situation für mich, für uns. Wir hatten wenige Tage, bevor Sie zu mir kamen, davon Kenntnis erhalten, dass aus der KHG-Kirche die Rikus-Pietà, die große Ikone und das Hängekreuz in der Krypta abtransportiert worden waren – ohne unser Wissen, ohne unsere Zustimmung. Und wir wussten damals nicht, wer das initiiert und veranlasst hatte, vor allem nicht, wer den Leuten, die die Sachen da mitgenommen haben, die Kirche geöffnet hat. Ich war stinksauer … glauben Sie mir: mehr als stinksauer.“

Ich nehme das Cognak-Glas und betrachte die sanft schaukelnde Flüssigkeit. Und beginne zu verstehen. Das ist die Erklärung für etwas, worüber ich seit Monaten rätsele; doch die Erkenntnis, dass diese Erklärung einen Zusammenhang umschließt – Himmel, darauf wäre ich nie und nimmer gekommen! –, der viele weitere Fragen mit einem Schlag beantwortet, verhindert jegliche emotionale Reaktion.

Meine Erkenntnissynapsen verlangen externe Unterstützung: den Cognak auf ex! In die logischen Aufklärungsprozesse drängt sich zudem die Frage, ob das überhaupt möglich ist, dass ein Raimund Blanke wütend oder stinksauer sein kann: Noch nie habe ich ihn wütend gesehen und werde ihn in 12 Jahren auch nie wütend erleben.

Ich schaue Raimund Blanke an und halte ihm das leere Glas entgegen: „Und Sie – Sie nahmen natürlich an, dass der Nyssianer Wolters, der einen Kirchenschlüssel hat, da den Leuten alles geöffnet …“

„Wir mussten alle verdächtigen, die einen Kirchenschlüssel hatten“, sagt Raimund, öffnet die Flasche und schenkt ein, wobei er instinktiv erahnt hat, dass die Situation einen Doppelten verlangt. „Und man hat uns auch explizit gesagt, dass wahrscheinlich Sie …. Später hat sich die Sache aufgeklärt, und wir wissen jetzt natürlich, wie das damals gelaufen ist. Und wer die Kirche geöffnet hat … Tut mir leid – aber damals glaubten wir, Sie gehören zu dem Kreis derer,  die … – und als Sie dann anriefen und um diesen Termin baten, um von Ihrer Chorarbeit zu berichten, hat uns das natürlich sehr erstaunt …, auch leicht irritiert.“

Er blickt mich an und fährt fort: „Sie müssen verstehen, dass wir sehr vorsichtig sein mussten, und Sie direkt darauf anzusprechen, ging auch nicht, weil … die Sache war viel zu heikel, ich kannte doch die ganzen Verhältnisse hier vor Ort so gut wie gar nicht. Von allen Seiten Fragen, auch vom Erzbistum, und so dachten wir: Hören wir uns an, was der Wolters zu sagen hat, und wenn er irgendeinen Hinweis dazu bringt – wissen wir mehr. Unter diesen Umständen haben wir wahrscheinlich nicht gerade freundlich gewirkt… “

Ich nicke.

„Ja, und Sie haben nur vom Chor erzählt. Wo sollten wir da einhaken?“

„Beim NGL“, erwidere ich.

Raimund Blanke lacht laut auf. Dieses Lachen werde ich vermissen. Wir heben die Gläser und stoßen an. Unten ertönt die Klingel. Raimund springt auf und läuft mit gewohnt halsbrecherischer Geschwindigkeit die abenteuerlich konstruierte Treppe hinunter, um Thomas die Tür zu öffnen.

Ich bleibe oben sitzen und betrachte die Brille, die auf dem Tisch liegt.

 

Nikolaus Wolters 

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