GEISTLICHER CHOR

Paristagebuch Okt 05


Nach Hause kommen in die Rue Spontini

Der "Geistliche Chor der Katholischen Hochschulgemeinde Köln"
zum 7. Mal zu Besuch in St. Albertus Magnus
Aus dem geheimen Paris-Tagebuch des Nikolaus
(14.10-16.10.2005)
 

So viel steht fest: Es gibt keinen Platz auf Erden, wo wir, der Geistliche Chor der Kölner Hochschulgemeinde, so herzlich empfangen werden wie in der Deutschen Gemeinde in Paris. Wenn wir in die Rue Spontini einbiegen, dann ist es so, als würde man nach langer langer Zeit wieder nach Hause kommen. Und auch Chorleute, die zum ersten Mal mitfahren und den Erzählungen alter Paris-Hasen eher skeptisch gegenüberstehen – schließlich wird im Chor grundsätzlich über­trieben –, werden von diesem Heimatgefühl überwältigt, wenn Gemeindereferentin Gerta Kotterick und Pfarrer Stefan Sellinger (siehe Bild) in der Tür stehen und uns begrüßen.


Doch der Weg nach Paris ist weit. Nicht im geographischen Sinne. Der Weg dorthin ist mit einigen Hürden aus­ge­stattet, und diese Hürden befinden sich vor allem in Köln-Sülz.

Januar 2005: Die komplizierte Finanz­lage im Strudel von "Zukunft heute" hat sich geklärt, zumindest was den Chor und seine finanzielle Ausstattung angeht. Hochschulpfarrer Raimund B. und ich haben nach endlosen Debatten die ideale Lösung gefunden: Wenn die KHG das Zentrum und die Kirche vier Tage in der Woche an die "Legionäre Christi" und/oder an das "Opus Dei" vermietet, können wir dieses Jahr wieder nach Paris fahren.

Die Verhandlungen waren echt hart. Anschließend liegen R.B. und ich total er­schöpft am beheizten Pool im Glaskuppel-überdachten Tropen-Park seines Rokoko-Schlosses in Bonn Bad Godesberg. Von fern dringt das Wiehern seiner Araber-Hengste zu uns herüber. Eifrige Filipinos huschen gebückt um uns herum und ser­vieren eisgekühlte Drinks mit kleinen Schirmchen. "Kein Wort zu den anderen", zischt Don B. mir zu und scheucht mit einer lässigen Handbewegung Carina H. weg, die gerade ihre Reflexzonenmassage an Blankes linkem Fuß beendet hat und schluch­zend davonläuft. "Kein Wort zu den anderen, besonders nicht zu diesem Weber!"

Ich beobachte Raimunds stahlharte Gesichtszüge aus dem Augenwinkel. Ja, die Bräune von vier Monaten Sizilien oder Dinklage steht ihm besser als das grüne Zeug, das man ihm in der neurochirurgischen Uni-Klinik ins Gesicht geklatscht hatte, als er dort in Zwangsjacke eingeliefert wurde, ständig die Worte wiederholend: "Ich bin ein Imperator, ich bin ein Imperator …"

Raimund erhebt sich und wirft mir mit einem großzügigen Grunzen einen Sack mit spanischen Golddublonen in den Schritt: "Du musst jetzt gehen. Gleich kommt Donna W., es gibt wiedermal Probleme mit den Schutzgeldern aus der 'Malve'." Tatsächlich nähert sich auf der endlosen Zufahrtsallee zu Blankes Anwesen im knirschenden Carara-Kies die dunkle Stretchlimousine mit dem gefürchteten KHG-Kennzeichen, deren Auftauchen in Sülz sofort die Mütter veranlasst, die Kinder von der Straße zu holen. Im Fond sitzen mit dunklen Sonnenbrillen Ursula W. und Friedrich Wilhelm St.  St.s Jackett ist wie immer ausgebeult von der 44er Magnum, ohne die er nie das Haus verlässt.  Benedikt P. und Bernhard E. springen vorne aus dem Wagen, sichern mit ihren Uzzis wild um sich blickend die Umgebung. Versehentlich lösen sich einige Schüsse aus der P.schen Uzzi, eine von Raimunds 17 Lieblingsdoggen bricht tot zusammen. Kann passieren - kenn ich noch von der Bundeswehr, hab' oft damit geschossen; die israelische Uzzi lässt sich kaum handhaben mit Einzel- oder Dauerfeuer, und auf den Sicherungshebel darf man sich nicht verlassen.


Drei numidische Leibwächter und die restlichen Doggen fallen sofort über Dr. P. her. "Lasst nur, um den kümmern wir uns später", knurrt Don B.

Er begleitet mich zum Neben­ausgang: "Du kümmerst dich ab jetzt nur noch um unsere Geschäfte in Paris. Und kein Wort zu den anderen!"

Puh! Glück gehabt. Ich atme auf. Endlich kann ich Pfarrer Stefan Sellinger und Gerta Kotterick den Termin bestätigen und uns verbindlich anmelden. Zuschüsse von der Bischofskonferenz bekommen wir ja schon lange nicht mehr, also müssen Stefan L. und ich auch keine Paris-Tagesabläufe mehr konstruieren, in denen zig Mediationsstunden und meditative "Gut-dass-wir-darüber-geredet- haben" - Gruppen-dynamische-Prozess-Reflexionen aufgelistet sind, die wir natürlich mit Flippchart, superdynanischem Moderator (langjähriger Gemeindereferent, gerade zurück von der 37. "Fochtbildung", ansonsten völlig ungeeignet für den normalen Dienst in einer Ortsgemeinde) und ständiger gegenseitiger Supervision bis zur kollektiven Einnahme von bewusstseinserweiterndem Prosecco ("Stößchen!") während aller Parisfahrten und auch bei Chorprobewochenenden immer knallhart durchgezogen haben. 

März-April 2005: Stefan L., nicht nur ein irrsinnig guter Tenor, sondern doppelbegabt ein ebenso genialer Finanzminister, regelt alles perfekt mit den Thalys-Karten. Er schafft es nicht nur, dass wir sehr günstige Tarife bekommen, sondern sogar alle in einem Großraumwagen zusammensitzen. Derweil ich mich um die Unterbringung kümmere. Der Chor steigt wie jedes Jahr im Jugendhotel FIAP-Jean Monnet ab. Keine Kritik: Das FIAP ist ein sehr gutes Hotel, sehr gut geführt und einiger­maßen preiswert, genau das Richtige für uns.

Dort reserviert man im Frühjahr telefonisch und bestätigt die Reservierung per Mail. Nach 6 Parisfahrten weiß man: Weder die telefonische Reservierung noch die be­stäti­gende Mail haben irgendeine Auswirkung. Also wiederholt man Anruf, die "reservation" und Mail mehrmals, selbstverständlich hat man nie den gleichen Gesprächspartner (und ständig andere Mailadressen). Einen gewissen Teilerfolg hat man erzielt, wenn im Juni/Juli bei Frau W. das Fax in der KHG eintrifft, das eine Anzahlung verlangt.

Mai bis August: Wir erinnern ab und an an die Paris-Fahrt; die Teilnehmerliste ist gut gefüllt, und – was für mich noch wichtiger ist: Der Chor präsentiert sich nicht nur zahlenmäßig ganz ordentlich, sondern auch gut verteilt in den Stimmlagen. Stefan und ich streichen ab und an heimlich Leute von der Liste, die ohnehin nie mitgefahren wären und in ihrem Termin-Nirwana "Ich-nehm-alles-mit-Mach-aber nichts-konsequent" versackt sind. Dafür melden sich einige Neue an, auf die – aufgrund unserer beider Einschätzung und Menschenkenntnis – unbedingt Verlass ist. Auf diese Weise bleibt die streng limitierte Zahl von 20 Teilnehmern relativ konstant.

Doch irgendetwas scheint mit Paris 2005 nicht zu stimmen; die ganze Organisation geht viel zu glatt. Stefan und ich sind beunruhigt; dann aber überrollt uns alle der Weltjugendtag mit seinem Irrsinns-Chorprogramm und all den Vorbereitungen.

September 2005: Die Benedetto-Rufe sind längst verhallt. Jetzt endlich kommen die hammerharten Paris-Schwierigkeiten, die mich vor jeder Fahrt immer ereilt haben – und da wundern sich die Leute noch darüber, dass man in der Metro den psychischen Breakdown kriegt und dass Gerta Kotterick seit sechs Jahren für mich literweise Beruhigungs-Cognak vom Feinsten bereitstellen muss.

Wenige Wochen vor der Fahrt sagen zwei der wichtigsten Tenöre ab. Zwei der wichtigsten Tenöre? Darf man diese qualitativen Unterschiede machen? Ja, darf man, wenn man nur drei Tenöre insgesamt hat. Eine Katastrophe. Jetzt schnell den Herzschrittmacher von "Schnecke" auf "Hase" umstellen und nachdenken. Eilig Leute nachnominieren. Martin, der gerade in der KHG seinen hoch dramatischen Zivildienst beendet hat. Nader, Medizinstudent aus Ägypten und Kopte, eindringlich beschwören, dass er nicht nur ein fantastischer Bass ist, sondern auch perfekt Tenor singen kann. Nader schaut mich aus seinen uner­gründ­lichen Augen lange an, aus Augen, in denen sich das Tal der Könige, eine uralte Geschichte und grenzenlose aristokratische Geduld spiegeln, und willigt zu guter Letzt ein.

Nader hat es wirklich nicht leicht mit diesem Chor. In der Eifel, beim Probenwochen­ende im Juni, wird er vom Dorfwirt angesprochen: "Du? Ein Türke? In einem katholi­schen Kirchenchor? Du biss' doch Moslem, nich?" Ebenso vorauseilend werden die Küchenleute an der Essensausgabe im FIAP die Speiseauswahl reduzieren, als Nader mit seinem Tablett dort auftaucht und auf ein paniertes Schnitzel deutet: "Isse Schweinefleisch, nix gut für Muslime, … hier, nimmssu Lamm." Klatsch, Flatsch!

Im Vorfeld der Reise habe ich in weitschweifigen Mails vor Stefan und Gerta damit geprahlt, wie toll der Chor beim Weltjugendtag hier in Köln gesungen hat und wie gut die Leute drauf sind. Jetzt, angesichts des Totalausfalls der Tenor-Sektion, stehen wir mit der recht hakeligen "Gabrieli-Messe", die besonders viel Tenoreinsatz ver­langt, vor dem Problem, dass weder der "Gabrieli" noch die anderen Chorstücke in dieser Besetzung kaum machbar sind. Die anderen Stimmlagen können die Sachen im Schlaf, die nachnominierten Tenöre dagegen müssen sich in 2 ½ Proben mit der eigenwilligen Rhythmik und Stimmführung der Renaissance vertraut machen. Je öfter ich ihnen mitteile, dass alles ganz einfach ist, desto misstrauischer und unsicherer werden sie. Heimlich treffen sie sich zu konspirativen Proben und ackern die Tenorstimme durch, nur, um dann wieder von mir gesagt zu bekommen: Ja, gut gemeint, aber … Tobias ist der Optimismus pur, aber genau das macht mir Angst.

Freitag, 14. Okt.: 6.50h, Köln Hauptbahnhof. Etliche Chorleute rennen in blindem Ver­­trauen mit ihren Koffern und mit Schwung gegen Bahnhofsmauern, weil ich aus Schabernack auf dem Paris-Info-Blatt als Abfahrtsort "Gleis 9 ¾" angegeben habe.

Andreas U. taucht in guter alter Tradition erst gar nicht auf. Rolf hat schon das Handy gezückt, um ihn zu wecken. Doch dann wird es dunkel im Großraumwagen, denn jetzt steht Andreas mit seiner in endlosen Marterstunden im Bodybuildingstudio getrimmten und gestählten Schwarzenegger-Figur plötzlich in der Tür, während wir anderen bereits das übliche Koffergerangel – "Lass-mich-mal-durch!" – "Meine-Güte-ist- diese-Frau-dick!" –  "Bitte-weiter-gehen! Es-gibt-hier-absolut-nichts-zu-sehen!"-Ge­ran­gel durch­ziehen. Plötzlich bewegt sich der Bahnsteig, halt, nein: Der Thalys ist losge­fahren.

Ca. 8.15h: Der Thalys durchfährt im Schneckentempo Belgien. Wegen der belgischen Architektur im Allgemeinen und wegen der Klänge des zu diesem Zeitpunkt noch vorhandenen und tolerierten Hightech-Baby-Keyboards von Martin mit dem Namen "Rockstar" im Besonderen werden jetzt die ersten Sekt- und Prosecco-Flaschen geöffnet. Wir stoßen an: "Suscipe!" Ich bewundere die alkoholabhängigen Chorfrauen für die selbst auferlegte Zurückhaltung, bis Belgien mit dem Sekt zu warten.

Die Stimmung steigt um ein Vielfaches; und dem dynamischen, lederbehosten Fleischmützenmann vom anderen Ufer in existenzialistischem Schwarz mit seinem Super-Hyper-High-Tech-Mega-Laptop, der (heitutei) vor uns sitzt, bleibt nichts anderes übrig, als sich angesichts der überschäumenden christlichen Fröhlichkeit als schwuler Atheist zu outen. Ein katholischer Kirchenchor? fragt er erstaunt. Und fährt mit Sonderpädagogenstimme fort: Dann müssten wir doch Rücksichtnahme kennen? "Leider ist dies in unserer Religion so ganz und gar nicht vorgesehen", kläre ich ihn auf. Der ganze Waggon - auch wildfremde Menschen - spendet dieser Antwort spontan Applaus. Der Mann gibt sich geschlagen und mir später seine Visitenkarte. Und: Ich solle bitte den Platz mit Nader tauschen, den möchte er gerne anschauen. Doch ich lasse Nader an seinem Fensterplatz schlafen.

11.00h: Ankunft am Gare du Nord. In Paris ist Sommer. Traumwetter. Trotzdem gehen wir schnurstracks in den Keller, zur Metro. Aufgrund der monatelangen endlosen Proben in der KHG-Kirche sind wir kein direktes Sonnenlicht mehr gewöhnt. Karin P. kämpft sich - wie immer resolut - durch die Schlange am Fahrkarten­schalter und kauft für alle ein Bündel Metrokarten, die sog. Carnets. Rolf guckt sich diese Metrokarten lange an, und das ist auch gut so, er wird sie nie oder erst in Köln wiedersehen.

Freitagmittag: Wir haben im FIAP eingecheckt. Zwischen den Reservierungs­wünschen (Mai 2005) und der präsentierten Zimmerliste (14. Oktober) klaffen wie immer Welten. Um die Abfertigung zu beschleunigen, benutze ich den alten Axel-F-Beverly-Hills-Cop-Trick und verweise übertrieben laut auf imaginäre Telefonanrufe, in denen wir doch alle diese Fragen längst im Vorfeld geklärt hätten. Einige Hotelgäste bleiben im Foyer stehen und schauen irritiert zum Empfang herüber. Die FIAP-Leute an der Rezeption erinnern sich plötzlich an diese Anrufe und füllen mit Eva und mir die Zimmerlisten nach den Kategorien Männlich / Weiblich / Ich weiß nicht so recht / Konfession / Pärchen / verheiratet oder (noch) nicht / Sym- und Antipathie und nach allen weiteren denkbaren Konstellationen aus. Der Chor geht derweil zum Mitta­gessen, ab ca. 14.45h hat dann auch jeder ein Bettchen und ein Schlüsselchen. Nur Christiane hat noch keine Handtücher und ist zutiefst unglücklich. Endlich Zeit für eine kurze Siesta.

14.46h: Wir treffen uns zum Sightseeing. Habe eine kleine Paristour vorbereitet, auch ein paar Sätze zu Paris allgemein, spontan entscheidet sich der Chor jedoch für eine völlig andere Route. Jetzt steh ich da wie blöd mit meinem 30-Seiten-Vortrag, Schwerpunkt St. Germain des Près mit Exkurs über Descartes und den Gottes­beweisen, was aber niemand hören will. Aber damit war zu rechnen, wenn man mit einem Haufen Pisa-Loser loszieht.

Wir stürmen begeistert den Friedhof Montparnasse und werden am Eingang sofort zurückgepfiffen: Olala! Ich muss vom Wärter erst eine Erlaubnis einholen; bekomme einen Gräber-Lageplan – kostet zwar nix, aber wir werden eindringlich ermahnt, uns still, leise und pietätvoll zu verhalten. Jetzt erst dürfen wir den Friedhof betreten.

Apropos zurückgepfiffen: Hinter der ersten Wegbiegung stehen drei Fried­hofs­angestellte, zwei unterhalten sich angeregt und lautstark, der dritte arbeitet gärtnernd rund um eine Grabplatte und pfeift fröhlich vor sich hin. Wir beschließen daraufhin, das eben verordnete Schweigegelübde (im Sopran und Alt ohnehin kaum zu reali­sieren) etwas zu lockern. Und besichtigen die Gräber von Serge Gainsbourg, Samuel Beckett und natürlich von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre ("Nikolaus, wer war'n das?"). Die anderen Gräber, die ich gerne sehen will (César Franck, Camille Saint-Saëns, Ionesco) werden von resoluten Chordamen kurzerhand aus dem Programm gestrichen.

 

16.00h-16.30h: Mein Einfluss schwindet zusehends. Beim Invaliden-Dom spaltet sich die Gruppe auf. Die einen – die Spaltpilzgruppe – wollen unbedingt zum Eiffelturm, die andere Gruppe marschiert mit mir am Invalidendom und den zahllosen Kanonen des Militärmuseums vorbei Richtung Seine, herrlichstes Sommerwetter, wir überqueren die Pont Alexandre III, lustwandeln am Grand und Petit Palais vorbei zum Place Clemenceau und zeigen Nader die Champs Élysee. Wie einst Uli Wickert gehen wir bei Rotlicht über den Place de la Concorde und durchwandern den Jardin de Tuleries Richtung Louvre. Alle bis auf Nader, unser Ägypter, bewundern die Glaspyramide vor dem Louvre.

 

Vorbei an der Seine und den Bücherverkäufern, den Bouquinisten mit ihren grünen Kisten, jede garantiert mit etwa 10 noch nicht entdeckten Picasso-Radierungen. Rüber zur Ile de la Cité, Endziel Notre Dame, jetzt endlich mal ohne Gerüst. Dort ist gerade Gottesdienst. Grandiose Orgelmusik. Wir lauschen, anschließend lassen wir uns mit Granitfüßen im Café neben der Kathedrale (19.00h) nieder. Rolf und Andreas haben sich bereits das obligatorische Bier bestellt, das hier im Schatten von Notre Dame 9 Euro kostet. Ich will einmal nippen, doch Zahnarzt Dr. Rolf wehrt ab und klärt mich, seinen einzigen Privatpatienten, auf: Einmal nippen kostet umgerechnet 50 Cent.

 

19.30h: Zur Metro. Wir müssen zur Rue Atelier. Die Lautsprecherdurch­sage teilt mit, dass die Bahn später als geplant abfahren wird. Kein Mensch hat die Durchsage verstanden, aber aus dem Tonfall, der global derselbe ist, wenn zerknirscht Verspätungen angekündigt werden, entnehmen wir, dass wir ein paar Minuten hier unten warten werden müssen. Aus Rache singen wir auf dem Bahnsteig "All Night all Day". 1 Frau spendet Beifall, wirft uns aber kein Geld zu. O.k., klingt ja auch ohne Tenorstimme etwas merkwürdig.

 

Freitagabend, 20.15h: Wir kehren – in guter Tradition – im "Atelier 102" ein. Gerta hat dort für uns reserviert. Der Chef, ich nenne ihn aufgrund seiner Physiognomie gerne "Jean Gabin", serviert uns das Menu: den roten Kir als Aperitif, Gänseleber­pastete, die wirklich phänomenal ist, Ente, wie man sie in Deutschland nirgendwo bekommt (weil deutsche Gastwirte in der Regel nur Enten aus dem Jahrgang von Johannes Heesters servieren), die unglaublichen Bratkartoffeln und die grünen Böhnchen, die letztes Jahr fehlten, und abschließend Mousse au Trottoir. Auch Rolf scheint das Essen zu schmecken, obwohl er zu Recht – und irgendwie auch mit einer Spur Bedauern – darüber irritiert ist, dass ihm dieses Jahr niemand den Kir über die Hose kippt, was ja früher der Job von Daniel H. war.

 

Nach dem Essen und nach 5 Jahren zum ersten Mal fragt Jean Gabin danach, wer wir überhaupt sind. Ich teile ihm in perfektem Französisch mit, dass es sich bei seinen recht lautstarken Gästen um einen chœur de Cologne handelt. Zum Beweis könnten wir ein spontanes Ständchen darbringen, biete ich ihm an; wieder mal sind nach all dem Rotwein sämtliche Hemmungen dahin.

 

Jean hebt die Hände, es kann durchaus sein, dass dies als abwehrende Geste gemeint ist: Ich interpretiere es jedoch großzügig als bestätigendes "Macht das unbedingt!" und gebe mithilfe einer imaginären Stimmgabel ein paar Töne auf gut Glück an. Wir singen "All Night all Day", und erhalten großen Applaus der anderen Gäste, die endlich in Ruhe weiteressen wollen. Auf der Straße vor dem Restaurant bleiben Passanten stehen. Dabei ist "All Night all Day" ursprünglich eigentlich ein ganz leises Abendlied, klingt jetzt aber irgendwie total nach Schalke und Südkurve.

 

Wir verabschieden uns eilig und marschieren zum FIAP zurück. Unterwegs wird das Ständchen fortgesetzt; wiedermal ernten wir große Bewunderung – besser wäre hier der Begriff "Aufsehen" – für den Titelsong der Fernsehserie "Heidi", der – von Frauen­­stimmen zweistimmig in Küchenterzen vorgetragen – das Leben auf den großen Boulevards ungeheuer bereichert. Sonst – ohne uns – wär' da ja gar nix los. Hinter uns gehen aus Protest die ersten Autos in Flammen auf. Zurückhaltendere Chormitglieder versuchen so zu tun, als gehörten sie überhaupt nicht dieser Gruppe an und seien nur ganz zufällig hier. Oder sprechen extra laut koreanisch.

 

Im FIAP angekommen, findet noch die Spontanfete auf dem Tenorzimmer statt, wo angesichts der angespannten chorischen Situation großzügig Alkohol an die Tenöre und alle Betroffenen, also an uns alle, gespendet wird. Martin und Tobias packen eine riesige Magnumflasche Reiswein aus, die schon seit vielen Jahren das Café Leselampe der Hochschulgemeinde ziert; wir öffnen sie: Das Zimmer wird augenblicklich erfüllt vom Duft einer betagten Maggi-Würfel-Suppe mit hohem Kerosin-Anteil. Obwohl – rein wissenschaftlich gesehen – der Inhalt dieser Flasche mit Sicherheit die lang gesuchte Lösung auf rein biologischer Basis für alle Energieprobleme dieser Welt darstellt, stimmen wir sofort Martins genialem Vorschlag zu, die Flasche samt Inhalt wieder zu verschließen und großzügig den Zimmermädchen des FIAP zu überlassen, versehen mit einer kleinen Karte: "Herzlichen Dank für alles!"

 

Die Stimmung ist sehr gut, die Tenöre sind zuversichtlich. Überraschenderweise gibt es dieses Jahr keine Drohungen von Seiten des FIAP-Nachtportiers, uns wegen nächtlicher Ruhestörung sofort auf die Straße zu setzen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass Thomas H. dieses Jahr nicht dabei ist, der sonst schon mal gerne spätnachts (wie tagsüber deutsche Rentner in Hürth) im Feinripp-Unterhemd im Fenster liegt und englische Mädels zwei Etagen höher anbaggert. Die Mädels dürfen nicht älter als 19 sein, sonst klappt das mit der Anbaggerei und auch mit den Rausschmiss-Drohungen der FIAP-Leitung nicht, die sonst jedes Jahr einmal fällig wurden. Auch macht niemand der Chormädchen wie 2004 um zwei Uhr nachts im kameraüberwachten Flur des FIAP Kopfstand­versuche im Schlafanzug – letztes Jahr musste ich Isabel H. eindringlich darauf hinweisen, dass Schlafanzugoberteile bei Kopfstand­versuchen durchaus den Gesetzen der Schwerkraft unterliegen. Hab ich ihr aber erst danach gesagt.

 

Samstag, 15. Oktober, morgens: Nach dem Frühstück Sightseeing. Eine Spaltpilzgruppe will zur Abwechslung endlich mal zum Eiffelturm. Ich schließe mich der Nicht-Eiffel­turm­gruppe an, weil ich neben meinen zahlreichen weiteren psychischen Gebrechen selbstverständlich auch an Höhenangst leide. Zu meinem Entsetzen stelle ich fest, dass ich mich einer Gruppe angeschlossen habe, die ein Schiff besteigen will. Neben Höhenangst, Metro­platzangst und Tenorverlustphobien leide ich natürlich auch an Seekrankheit, werde schon am Aachener Weiher beim Spazierengehen seekrank, aber ich lasse mir nichts anmerken.

 

9.30h: Ich werde alt. Dies merke ich daran, dass wir beim "Batobus"-Schaffner vor der Seine-Schiffsrundfahrt aus Jux versuchen, unsere Sopranistin Iris beim Karten­lösen als meine Tochter auszugeben. Was zu meinem Schrecken problemlos funktioniert. Stolz schwenkt sie die Kinderfahrkarte, während Nader und Andreas mich stützen und zu meinem Sitzplatz führen.

 

Wider Erwarten schaukelt das futuristische Schiff kaum, ich werde nicht seekrank! Aus Dankbar­keit verspreche ich Iris, Tanja, Eva, Andreas, Nader und Karin auf ihr Bitten hin, ein Geistl.-Chor-Soap-Opera-Drehbuch zu schreiben. Eine G-Punkt-Chor-Telenovela. Die Ideensammlung auf dem Batobus kann sich sehen lassen: Nader, das Wunder bzw. der Bulle aus Ankara, in der Hauptrolle, Iris als meine Tochter und als Naders minderjährige Geliebte, eine von vielen, eigentlich liebt er aber eine andere. Karin P. ist natürlich meine Exfrau – "Nous sommes divorcé"; Eva K. tritt in der vierten Folge als wiederentdeckte Verwandte auf, Halbschwester, aus Wien, in der 17. Folge der 3. Staffel wird sich Michael O. als Frau outen, was wir ihm aber vor Drehbeginn und mit Rücksicht auf die 1 Woche später stattfindende Hochzeit, wo wir Schubert mit unserem Orchester singen werden, jetzt noch nicht mitteilen wollen.

 

Wir erklettern den Montmartre; lassen uns in dem berühmten kleinen Café nieder, wo Pfr. Blanke und ich sonst immer samstagmittags bis zur Besinnungslosigkeit Cognak getrunken haben, dort an diesem Platz, wo all die Maler und Porträtisten hocken und immer Karin und mich malen wollen, was wir nur mit dem Hinweis "Nous sommes divorcé" erfolgreich unterbinden können. Anschließend machen wir mit Nader eine Führung von 30 Sekunden durch Sacre Coeur.

 

Leider ist mein Lieblingsmönch nicht da, der dort immer hinter dem Eingang lauert und sofort aufspringt, den Zeigefinger auf die wulstigen Lippen presst und mich zur Ruhe auffordert, obwohl ich noch keinen Pieps gesagt habe. Sehe ich wirklich so aus, als wollte ich tourette-mäßig im Eingangsportal den Refrain von "Don't look back in anger" von Oasis anstimmen? Vor ein oder zwei Jahren musste mich Karin P. mit ihrem berühmten Drillseargent-Griff festhalten, weil ich dem Mann auch meinen Zeigefinger und alle anderen Finger meiner rechten Hand auf seine Lippen legen wollte. Ich bin selbstständig tätig in meinem Beruf und weiß, dass die Zeiten hart sind. Aber es ist ziemlich schräg, wenn man bei Kirchens einen Job hat, der darin besteht, jeden, der andächtig schweigend Sacre Coeur betritt, gnomartig anzuspringen und dabei den Finger auf den wulstigen Mund zu legen, acht Stunden lang ständig: Pschtbalubbpschscht!!

 

Wir beeilen uns, zum Fiap zurückzukommen weil Mittagessen. Den verkürzten "Weil"-Satz hab ich von Max Frisch, leider total out zur Zeit. Unterwegs bittet der mittlerweile total abgemagerte Nader mich mehrmals inständig, ihm diesmal bei der Essensausgabe zu helfen. Wegen Moslem, Ramadan und so. Ich willige ein und lege ihm im FIAP in der Warteschlange bei der Essens­ausgabe schon mal die große Plastik-Languste aus der Auslage auf sein Tablett.

 

Samstagmittag: Einige Leute aus einer Spaltpilzgruppe wollen vor dem Eintreffen in der Deutschen Gemeinde endlich mal zum Eiffelturm, um sich dort – wie sie wörtlich sagen – ins Gras zu legen. Die anderen fahren geschlossen von Denfert-Rocherau aus auf der schönen Metrostrecke am Eiffelturm vorbei in Richtung Deutsche Gemeinde. Wir biegen ein in die Rue Spontini – und sind endlich zu Hause. Gerta und Stefan begrüßen uns herzlich. Endloses Geknutsche. Wir stürzen uns auf den dampfenden Kaffee. Nachdem auch die Spaltpilzgruppe vom Eiffelturm eingetroffen ist, die den Blumen­strauß für Gerta besorgt hat, kann ich endlich die Leute dazu überreden, dass wir mal ein bisschen proben.

 

Die Probe verläuft sehr gut und hochkonzentriert. Vorbildhaft in dieser Probe: der Blickkontakt mit dem Bass. Die Augen der Bassisten verfolgen wie gebannt mein wie immer äußerst präzises Dirigat. Der Bass steht wie eine Eins. Ich bin stolz und will nach oben zum Buffet rennen, da fällt mir ein, dass das ja nur die Generalprobe war und die französische Messe erst noch beginnt. Ich schenke mir einen großen Cognak ein. Gerta hat in weiser Voraussicht die Flasche für mich stehen lassen. Der Zivildienstleistende der Deutschen Gemeinde, Dominik, schaut mich verständnisvoll und mitfühlend an, als ich schließlich den Rest der Flasche auf Ex austrinke. Früher haben die Zivis in der Kölner KHG mich auch immer so angeschaut. Früher, als sie noch nicht dauerbekifft durch die KHG turnten.

 

Wir gestalten den französischen Vorabendgottesdienst. Der Chor ist unheimlich gut drauf, Tanja und Eva lesen die Lesungen sogar auf Französisch vor. Perfekt! Der Wortgottesdienst ist gerettet. Der "Gabrieli" dagegen ist immer noch im Stadium "Jugend forscht". Aber immerhin: Die Bassisten verfolgen wie gebannt mein wie immer präzises Dirigat. Ich sach' ja immer: Augenkontakt ist wichtig. Keine Spur von Lampenfieber im Bass. Erst recht nicht bei den Tenören, die sich in der rechten Ecke der Kapelle offenbar total wohl fühlen und diesem Wohlgefühl sogar an Stellen lautstark Ausdruck verleihen, wo sie gar nicht dran sind.

 

Pfarrer Stefan Sellinger kann man nix vormachen musikalisch, doch er ist viel zu viel Gentleman, als dass er auch nur ein Wort an negativer Kritik loslassen würde. Die Besucher des französischen Gottesdienstes beweisen Geduld, zeigen großes Interesse und bewundern unsere eigenwillige diatonische Interpretation des Gabrieli. Ja, diese Renaissance war schon verblüffend  avantgardistisch! Anschließend wird es – was ich jedesmal genieße – diese wunderschön überschwänglichen Statements der begeisterten Franzosen geben.

 

Zum Dank verteile ich nach dem Gottesdienst in Kopie spontan an alle den "Irischen Segen" auf Französisch und stelle den Chor vor die Aufgabe, diesen für uns altbekannten Song spontan auf Französisch zu singen, was mir bei allen Chormitgliedern wiedermal große Sympathie einbringt. Auch den Franzosen fällt es nicht leicht, sie können zwar einigermaßen Französisch, kennen jedoch das Lied überhaupt nicht - aber irgendwann haben wir's geschafft.

 

Nach dem Gottesdienst bitten Stefan und Gerta den Chor zum Buffet oben in die Gemeinderäume. Tobias und Martin holen mich nach einer kurzen Prügelei mit Rolf von der Straße. Das darf man jetzt nicht missverstehen. Rolf wird häufig von mir geprügelt, meist jedoch, wenn er sich in der Zahnarzt-Praxis mit irgendwelchen Mörderinstrumenten über mich beugt und sadistisch grinsend in den Wurzelkanälen rumstochert. Da man aber bei Rolf ungefähr 5 Monate auf 1 Termin warten muss, musste ich ihn jetzt kurz ein bisschen in Paris prügeln.

 

Apropos Gesundheitswesen: Zur Kostendämpfung hatten wir im Vorfeld vorgeschlagen, besagtes Buffet ein wenig zu reduzieren, doch wiedermal stehen da Speisen und Schüsseln vom Feinsten. Gerta sieht meinen bestürzten Blick und versichert mir, es sei etwas weniger als im Vorjahr, was ich absolut nicht erkennen kann. Allein der Shrimpssalat ... Aber der Lieferant des Buffets, so klärt mich Gerta auf, beliefert sonst französische Staatsgäste; wahrscheinlich empfindet der Mann die quantitative Reduzierung des Buffets als Affront und kann gar nicht anders, als Buffets aufzubauen, unter denen sich die Tische biegen. Ich kann das gut verstehen. Wenn demnächst Kanzlerin Angela nach Paris kommt, hat er nicht mehr viel zu tun, denn die stürmt dann selbst an den Kühlschrank im Elysee-Palast und fragt: "Jacques, hasse ooch Nutella? Icke will mer ne Stulle machen."

 

Hier gibt’s keine Stullen, sondern feinstes Baguette in allen denkbaren Schattie­rungen. Pfarrer Stefan öffnet zum Aperitif seinen berühmten Papst-Wein aus Avignon – und das zeigt einerseits die vollkommen unverdiente Hochschätzung, die wir hier genießen, ist andererseits höchst gefährlich. Dieser Wein ist ungeheuer gut, aber nicht jeder verträgt ihn. Ich weiß noch, wie einst Thomas Pllpndtpt (Name vom Verfasser geändert) von diesem Wein drei Gläser gekostet hat und danach buddhistisch-selig in einem dicken Sessel saß. Buddhistisch-selig lächelnd in einem dicken Sessel zu sitzen entspricht durchaus seinem Naturell, aber auf jede Frage oder Aufforderung hin nur noch freundlich-nachsichtig zu grinsen, ließ die Situation schon ein bisschen kritisch werden. Und damals musste er mehr oder weniger zur Metro getragen werden. Also Vorsicht mit dem Papst-Wein aus Avignon!

 

Pfarrer Sellinger öffnet ununterbrochen Weinflaschen. Die Stimmung ist auf dem Höhepunkt. Es wird musiziert und gesungen – "Le ciel de Paris". Andreas spielt Geige, unglaublich, wie perfekt er den Zigeunersound hinkriegt bei Hevenu Shalom alechem. Und dann auch bei all den anderen Stücken, wo gar kein Zigeunersound verlangt ist. Michael O. spielt Jimmi-Hendrix-mäßig megageil Gitarre; wieder mal wusste ich nix davon, dass der Mann überhaupt und dann noch so gut Gitarre spielen kann. Tobias trägt ein grandioses Gedicht von Heinz vor, Gertas Mann. Und natürlich drängt es Tobias, den Robbie zu geben: "Let me entertain you". Ich sehe Rolf, wie er zärtlich seine Klarinette auspackt. Ich nehme mir vor, ihn nicht mehr so häufig zu prügeln, und gehe derweil durch das Büro auf das Kirchendach und rauche Kette und schaue paparazzimäßig in die Wohnung von Olivia di Havilland und beneide sie: Sie liest.

 

Weiß Olivia, dass ich sie vom Kirchendach aus beobachte? Wahrscheinlich. Sie lässt dann ihr Buch sinken und sagt zu ihrem Hauspersonal: Leute, da steht wieder dieser dicke Mann auf dem Kirchendach. Herrje, ist denn schon wieder Oktober?

 

Gerta ist mir aufs Kirchendach gefolgt. Wir wollen endlich mal allein sein, doch da kommt Andreas Untiedt und will auch eine Zigarette. Gerta hat eine blendende Idee: "Wir rufen Raimund B. an!" Erst jetzt fällt mir auf, dass Raimund B. gar nicht da ist. Ich schlage mir gegen den Kopf. Das hätte mir doch schon vorhin auffallen müssen, als Pfarrer Stefan die Rhythmusinstrumente verteilte. Wer erinnert sich nicht daran, wie Pfarrer B. letztes Jahr nach dem Buffet die Percussion-Instrumente so virtuos bediente? Und: Warum muss ich in diesem Zusammenhang immer an Werbespots der Aktion Sorgenkind denken, wo in kurzen Ausschnitten neu eingerichtete Betreu­ungsstätten vorgestellt werden, in denen begeistert Musik­therapie betrieben wird?

 

Hochschulpfarrer R.B. hatte ebenso kurzfristig wie die Tenöre die diesjährige Reise nach Paris absagen müssen, weil er turnusmäßig die Notdienst-Bereitschaft am Handy der Krankenhausseelsorge der Uniklinik übernehmen musste.

 

Und das weiß Gerta. Zu unserer großen Bewunderung zieht Gerta diese Nummer eiskalt durch, während wir daneben stehen und uns krümmen vor Lachen. Andreas Untiedt hat ihr B.s Handynummer gegeben.

 

Gerta wählt, wartet auf Freizeichen, R.B. geht ran. Mit erstickter Stimme verlangt Gerta nach sofortiger Hilfe:

 

Gerta (röchelnd): "Ich habe Atembeschwerden, schlimme."

Raimund B. (aufgeregt): "Hallo?"

Gerta: "Uargh! Sie müssen sofort kommen. Ich habe Atembeschwerden. Eigentlich haben wir alle hier Atembeschwerden."

Raimund B. (noch aufgeregter): "Äh, was? Hallo?"

Gerta: "Atembeschwerden. Sie müssen sofort kommen. Es geht zu Ende... Das ist wegen all dem Rotwein hier … Der Wein geht bald zu Ende... Sie haben doch Notdienst? Wir brauchen geistlichen Beistand …"

Raimund B.: "Was? Ja, gut, in Ordnung – ich meine ja, also … Wo muss ich hinkommen?"

Gerta (röchelnd, mit Grabesstimme): "Schnell, bitte."

Raimund B. (hilflos): "Ja, was kann ich tun …? Wo, wer, wie bitte?"

Gerta: "Rue Spontini. Hier geht total was ab, Unmengen an Rotwein, hören Sie selbst!" (Sie hält den Hörer in Richtung Versammlungsraum, wo gerade laut Robbie William's "Let me entertain you" gesungen wird.)

Raimund: "Ähem…"

 

Schließlich erlöst Gerta den Hochschulpfarrer, durch die Muschel hören wir selbst im Abstand von drei Metern sein Lachen. Gerta berichtet ihm, und wir sagen unsere Grüße durch.

 

Irgendwann weit nach 23.00h: Auch das schönste Fest findet sein Ende. Wir müssen die letzte Metro kriegen. Die letzte Metro von Truffaut, mit Catherine Deneuve, Gérard Depardieu, Heinz Bennent. Ich stelle mich in die winzige Küche und spüle. Andere trocknen heldenhaft ab. Eine Spaltpilzgruppe verzichtet selbstlos auf die Küchenarbeit und seilt sich früher ab, weil sie noch zum Eiffelturm wollen, wo jetzt die 3000 Japaner mit ihren Blitzlichtkameras hocken und viertelstündlich ein kollektives Synchronfotografieren veranstalten. Muss man ja gesehen haben. Wir sehen uns am Trocadero, rufe ich den Spaltpilzen nach. Wäre ein guter Songtitel für WDR 4: "Wir sehen uns am Trocadero".

 

Irgendwie erreichen alle wohlbehalten das FIAP. Ich setze mich an den Schreibtisch in meinem Zimmer, führe rasch eine kleine Quantenberechnung durch, schreibe bis tief in die Nacht an einer Elegie und entwerfe nebenbei den Plot eines rein auf Innenschau angelegten Problemromans im Suhrkampstil (3 Literaturpreise jetzt schon sicher). Irgendwann ist auch die Spaltpilzgruppe wieder da, man hört das von Tobias imitierte Lachen unseres Hochschulpfarrers durch die Rue Cabanis schallen, obwohl mein Zimmer nach hinten rausgeht. In der psychiatrischen Klinik gegenüber dem FIAP-Eingang (wir haben das in früheren Jahren schon mal verwechselt) sind jetzt wahrscheinlich alle hellwach.

 
 

Sonntag, 16. Oktober, irre früh morgens: Ich werde wach, weil Suse J. wie bescheuert eine Viertelstunde lang an meine Zimmertür hämmert. Weiber! Unwillig stehe ich auf und lasse sie raus.

 

Nein, natürlich ist alles ganz anders: Suse steht draußen vor meiner Tür im Flur und soll mich wie vereinbart wecken. Ich richte mich auf und knalle mit dem Kopf gegen die Bettlampe. Ach ja, bin ja in Paris und nicht in der heimatlichen Abstellkammer. Schnell angezogen und den Koffer gepackt.

 

Im Hotelfahrstuhl, der immer nach billigem Parfum riecht, zusammengemixt aus 9 Etagen und 34 Nationen, schauen mich verquollene Augen anderer Hotelgäste und auch Chormitglieder an. Zu diesem Zeitpunkt bin ich einfach noch nicht in der Lage, andere Hotelgäste von Chormitgliedern zu unterscheiden. Zum Glück sagt keiner etwas. Frühstück, Abgabe der Schlüssel, Exodus mit Trollis, Taschen, Täschchen, Rucksäcken und Kosmetikköfferchen aus dem FIAP. Bei der Station Glacier angekommen, verheddert sich Rolfs Kosmetikköfferchen im Drehkreuz, weil er hektisch in seinen Taschen wühlt und natürlich seine Fahrkarten nicht findet.

 

Die Metro ist am frühen Sonntagmorgen rappelvoll, viele Leute tragen Turnschuhe und ein nummeriertes Lätzchen – ein Volkslauf. Ich finde es furchtbar, dass die alle frühmorgens schon so dynamisch und sportlich gut drauf sind – und sich vor allem so laut unterhalten. Mein Kopf fühlt sich an wie ein Bahnwärterhäuschen, an jeder Wimper zehn Ameisen. An der Endstation ist der Kreisel zur Straße abgesperrt, die zur Avenue Foche führt. Wegen des 20-Kilometer-Laufs treffen etliche Besucher des Gottesdienstes später ein, nicht weil sie sich sportlich überschätzt haben, sondern weil sie mit ihren Autos nicht zur Rue Spontini durchkommen. Das gibt uns, dem Chor, jedoch Zeit, uns zu sammeln und chorischen Blickkontakt zu üben.

 

Wie jedes Jahr beim Einsingen am Sonntagmorgen in der Deutschen Gemeinde erreichen alle ungeahnt tiefe Stimmlagen, und viele haben ein Timbre in ihrer Stimme, das ungefähr so klingt wie Marlon Brando in "Der Pate": "Irgendwann, vielleicht auch nie, werde ich dich um eine Gefälligkeit bitten …" Wie jedes Jahr habe ich bei den ersten Einsingversuchen am Sonntagmorgen immer die Vision, als stünden da in den Männerstimmen mindestens 12 Joe Cockers vor mir, die nicht nur genauso singen, sondern auch genauso aussehen und sich bewegen. Doch überraschenderweise sind alle ebenso gut drauf wie die Langstreckenläufer, und die Gabrieli-Versuche klingen heute Morgen äußerst vielversprechend.

 

Ich jedoch will heute Morgen musikalisch ganz auf Nummer Sicher gehen und frage Gerta unwirsch, wo der verdammte Cognak abgeblieben ist. Der Cognak steht oben, in der ersten Etage auf dem Buffettisch, sagt Gerta, die über all die Jahre mit meinen Launen längst vertraut ist.

 

Was sie mir nicht sagt, ist, dass oben sich bereits etliche Kinder und ihre Mütter versammelt haben, die den ersten Teil des Gottesdienstes in der ersten Etage im Gemeinderaum verbringen werden. Ich bemerke die großen neidischen Kinderaugen und die kopfschüttelnden Mütterblicke erst, als ich das erste Glas Cognak bereits heruntergestürzt habe und aus der Karaffe nachschenke. "Ich will auch was davon trinken", ruft ein kleiner Junge. Seine Mutter schließt empört die Tür zum Flur.

 

Ich spüre, wie der Cognak meine Eingeweide zum Leben erweckt. Langsam komme ich in Fahrt. Der Gottesdienst beginnt. Tatsächlich klingen Kyrie und Gloria sehr gut; ich bin begeistert. Niemand spricht französisch. Auch das Sanctus bekommen wir sehr gut hin. Rolf wagt es nicht, woanders hin als auf mich zu schauen. Beim Agnus Dei gibt es ein paar Hakeleien, aber die bemerkt – außer natürlich Pfr. Stefan –  hoffentlich niemand. Unglaublich. Leider ist Giscard d'Estaing heute nicht da, der ja um die Ecke wohnt, direkt neben Olivia de Havilland, Frankreichs letzter Absolutist als Staastpräsident, der oft die Deutsche Gemeinde besucht (zu Nikolaus ist er immer da, weil auch er eines der 400 Tütchen mit Plätzchen und Schoko-Weihnachtsmann haben will, sagt Gerta). Giscard hätte das strenge Latein gefallen, da er – wie ich zum Schrecken von Raimund – die ganz traditionalistisch vorkonziliare Linie im Katholi­zismus fährt. Seine Leibwächter, die Tag und Nacht vor seiner Villa patroullieren, beäugen uns immer ganz misstrauisch, wenn wir da frühmorgens schlecht gelaunt mit unseren Trollis um die Ecke biegen in diesem stillen Superreichen-Arrodissement (dieses Mal besonders argwöhnisch wegen unserem Super-Al-Kaida-Taliban Nader). Wenn wir dann Sonntagsmittags wieder losziehen, winken sie uns begeistert nach.

 

Sie haben recht: Der Gabrieli war wirklich nicht schlecht. Soll ich heute mal den Chor loben? Ich verwerfe den Gedanken sofort wieder. Jetzt bloß nicht – in den letzten Stunden – sentimental werden. Tanja versucht heldenhaft, wie schon am Vorabend nach dem französischen Gottesdienst, unsere Chor-CDs zu verkaufen. Immerhin, 10 Stück sind weg. Zum Dank für ihren Einsatz kriegt Tanja nichts zu trinken.

 

Wir tragen Stefans Klavier hinaus in den Hof und versammeln uns zum Ständchen an die Gemeindemitglieder und vor allem an Olivia de Havilland. Stefan Sellinger ruft Olivia an und warnt sie vor. Trotzdem erscheint sie am Fenster - perfekt gestylt wie für die Oscar-Verleihung. Wir bringen unsere Pop- und Rock 'n Roll-Hits aus dem WJT-Konzert "Music all over the World", und Olivia swingt am Fenster begeistert mit. Oder sie tut wenigstens so, aus Höflichkeit. Aber es scheint ihr wirklich zu gefallen. Ich werfe ihr eine Kusshand zu, die sie erwidert. Jetzt bin ich irgendwie Filmgeschichte. Sie lächelt, winkt und grüßt herzlich. Karin ist eifersüchtig.

 

Oben in den Gemeinderäumen duftet der Käse – unser traditionelles Käsebuffet. Wiedermal hat Stefan Sellinger eine fantastische Auswahl getroffen. Es gibt Sekt. Und danach Wein. Unglaublich guten Wein. Ich kann gerade noch verhindern, dass Iris, die nur lieblichen Wein trinkt – die zweieinhalb Liter-Flasche "Pennerglück" von Aldi – Stefan nach der Zuckerdose fragt oder den Wein mit Cola mixt.  Wir unterschreiben alle in ungelenken Lettern eine Grußkarte an Olivia (die meisten kriegen nur noch Großbuchstaben hin) und legen ihr eine Chor-CD bei.

 

Stefan erzählt von seinen Plänen – nach der Pariszeit, die 2006 endet. Ich schlage ihm als Alter­native vor, Hochschulpfarrer zu werden. Dafür ist er prädestiniert. Vielleicht sogar in Köln, wenn Raimund B. die Brocken hinschmeißt, sich ganz der Pferdezucht widmet und/oder endlich Bischof wird, woran er ja schon lange strickt. "Wir könnten da durchaus was drehen", sage ich zu Stefan verschwörerisch und leere mein 17. Rotweinglas in einem Zug. "Es wird wie ein Unfall aussehen … Wäre nicht der erste Pfarrer, den wir  …"

 

Pfarrer Stefan findet meine Pläne echt toll und konstruktiv, winkt aber ab. Falsches Bistum. Kann man nix machen. Statt dessen lädt er uns ein, am 11. Juni 2006 wiederzu­kommen und die Abschiedsfeier zu gestalten.

 

Apropos: Dann kommt der große Abschied. Gerta und ich knutschen so lange, bis Heinz, ihr Mann, unruhig wird. Stefan drückt mir 3 Weinflaschen in die Hand: "Für die Rückfahrt", sagt er leise. Stefan weiß immer genau, was wann nötig ist.

Irgendwie – hier fehlen Teile meiner Erinnerung – erreichen wir mit Sack und Pack den Gare du Nord. Irgendwo steht auch ein leerer Thalys rum, den wir sofort entern. Auch an die Rückfahrt kann ich mich kaum erinnern. Das liegt daran, dass die Rückfahrt vollkommen harmonisch ablief. Irgendwie unerwartet harmonisch.


Im Zug ist es sehr leise, es herrscht eine meditative und reflektierende Stimmung - fast so wie in Blankes GZSZ-Meditationsgruppe, oder wie diese KHG-Geheimsekte da heißt. Einige Leute summen Teile aus der Gabrieli-Messe, ich verzichte nachsichtig auf Korrekturen falscher Tenorpartien. Neben mir schläft Nader und träumt von Wüstenkamelen. Die drei Weinflaschen von Stefan sind lange vor Brüssel leer, denn Andreas J. gibt eine perfekte Vorführung als Zugkellner und schenkt ständig nach. Seine Kellnerei imponiert mir um so mehr, als er auch Fahrgästen nach­schenkt, die überhaupt nicht zum Chor gehören und auch gar kein Glas haben.

 

Ich bemerke, dass einige Chorleute schluchzen und traurig sind – ja, das kann ich gut verstehen – nach diesen tollen Tagen voller Emotionen und Eindrücke; jetzt, wenn es bald heißt, bis zum nächsten Mittwoch Abschied voneinander zu nehmen, wo wir den Mozart G-Dur geben müssen. Dennoch bin ich kein Freund von Sentimentalität und schlage vor, dass wir von den Klängen des Rockstars begleitet Verdis "Ave Maria" singen – aus den "Quatro Pezzi Sacri", den "Vier heiligen Bären", gehört zum Chorstandardrepertoire. Leider ist das "Rockstar"-Keyboard zum Töne-Angeben nirgendwo zu finden. Echt schade. Martin will sich aus dem Zug stürzen, verwechselt aber die Tür und stiefelt schließlich grün und patsch­nass aus dem Thalys-Chemie-WC zurück zu seinem Sitzplatz. Auf den Gesichtszügen einiger schlafender Chormitglieder spielt ein triumphierendes Lächeln.

 

Weil im Waggon echt nix los ist und es mir hier irgendwie zu ruhig ist, gehe ich mit Karin und einigen anderen in den Speisewagen, um einen Kaffee zu trinken. Ich blicke mich um und sehe noch, wie Tobias und Martin eine komplette französische Schulklasse anbaggern, indem sie die Mädchen davon überzeugen wollen, dass Tobias in Wirklichkeit Robbie Williams ist, leicht abgeschminkt. Der französische Lehrer, der aussieht wie Prof. Dumbledore auf Totalentzug, rudert hilflos mit den Armen. Karin und ich nicken uns wortlos zu. Ja, der Jugend glückliche Spiele.

 

Die Schulklasse hat übrigens das ganz große Los gezogen: Sie fahren nach Hagen! In die Partnerstadt. Ausgerechnet Hagen. Auweia. Hatte mal eine Freundin aus Hagen, war evangelisch. "Dicht hinter Hagen ward es Nacht", schreibt Heinrich Heine in "Deutschland. Ein Wintermärchen." Tobias und Martin laden die Mädchen nach Köln ein, und tatsächlich, vor wenigen Wochen haben sie die Klasse durch Köln geführt und so wahrscheinlich diese Klassenfahrt gerettet. Wir sind Helden.

 

Schließlich lassen wir uns doch noch zu einem Ständchen hinreißen. Für die Gruppe  vor uns mit den Damen, die sich zur Feier des Tages ihre Backen alle mit Botox strammgezogen haben,  wahr­schein­lich ein selbstverwirklichender VHS-Kurs ("Modellieren mit Kartoffelsalat Teil IV") auf Abschlussfahrt, alle in einem Alter, wo die Kinder und der Mann schon längst aus dem Hause sind, singen wir "It's my Life" 5stg von John Bon Jovi aus unserem 1. WJT-Konzert und zur Abwechslung dann auch endlich mal "All Night all Day". Bis Lüttich und bis Bon Jovi's "It's my Life" hatten die angenommen, wir wären eine neoliberale FDP-Delegation, die endlich die Agrarsubventionen für Heuschreckenzüchter abschaffen will.

 

Um 19.00h erreichen wir Köln. Der Abschied ist gekommen. Alle stürmen raus. Draußen warten Armeen von eifersüchtigen Freunden, erfüllt von Skepsis, dass/ob ihr(e) Lebensabschnittsbegleiter/in wirklich in Paris war, und verägert darüber, dass sie/er nächste Woche gleich wieder weg ist, wenn wir mit Mozart und Schubert auf Tour sind. Karin und ich bleiben im Zug, wir beide allein mit aberhunderten von leeren Weinflaschen - überall Gegenstände mit den Spuren ihrer Bestimmung (die schönste Beschreibung eines unordentlichen Raumes natürlich von Goethe, natürlich im "Wilhelm Meister"). Das sei völlig normal bei Thalys-Reisen, klärt uns die Zugschaffnerin auf, das zu erwartende Flaschenpfand gehört als Bonus zu den Einnahmequellen des Thalys Reinigungspersonals. Wir fahren rüber nach Köln-Deutz, der Endstation des Thalys, wo uns Karins eifersüchtiger Ehemann Uli abholt und nach Hürth bringt.

 

Abends schreibe ich eine begeisterte, aber grammatisch und orthographisch recht bedenkliche Dankesmail an Stefan und Gerta. In der Nacht träume ich von Olivia de Havilland, Szenen aus "Vom Winder verweht" verweben sich mit der Kulisse von Paris, ich sehe Raimund, wie er die Sterbeszene der "Melanie" nachspielt, ich sehe Gerta und Stefan winken, und irgendwo unter dem Eiffelturm liegt beschienen von der untergehenden Abendsonne im Gras zwischen ein paar Spaltpilzen ein kleines Plastikkeyboard mit der Aufschrift "Rockstar" und fiept leise: "Let me entertain you".

 
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